Rede von Regina Leenders

Rede zur Demo am 04.03.22: Stoppt den Krieg – Die Waffen nieder.

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo 
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas Wasser einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

 Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Dieses berühmte Gedicht „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht entstand zwischen den Jahren 1934-38. Der zweite Weltkrieg stand bevor. Es scheint, als würde Brecht ahnen, was der Welt bevorsteht.

Ich bin Jahrgang 1990. Ich bin nach der Wende geboren, nach dem Kalten Krieg. Der Politologe Francis Fukuyama sagte zu dieser Zeit, dass das Ende der Geschichte erreicht ist. Die Demokratie hätte gesiegt und ja, die Vorstellung eines Angriffskrieg in Europa war nicht Teil meines Aufwachsens.

Ich hatte mich desöfteren gefragt, was ich in den dreißiger Jahren als Teil eines nationalsozialistischen Deutschlands getan hätte und tun würde, sollte in diesem Land ein derartiges Regime wieder an die Macht kommen. 

Die Antwort war klar: Der moralische Anspruch wäre, zu fliehen und nicht Teil davon zu sein oder, wenn ich den Mut aufbringen würde, Widerstand leisten. Aber tatsächlich habe ich mich nie gefragt, was ich tun würde, wenn unsere Souveränität, unsere Demokratie und unsere Werte angegriffen werden. 

Die Ukrainer verteidigen nicht nur ihr Land und ihre Familien, sie verteidigen ganz Europa und seineWerte und das demokratische Verständnis von Freiheit und Souveränität, das damit einhergeht.

Mich bewegt ihr Mut auf eine Art und Weise, die ich selbst nicht für möglich gehalten hätte, denn ihr Mut bedeutet auch, dass sie sich mit allen Mitteln wehren. Auch Deutschland musste sich dazudurchringen, Waffen zu liefern. 

Wir können uns unserer Verantwortung in Europa nicht mehr weiter entziehen und gleichzeitig müssen wir aufpassen, mit einer Erhöhung des Wehretats und einem Sondervermögen, nicht dem gefährlichen Militarismus zu verfallen.

Die Bundeswehr trägt den Slogan „Wir. Dienen. Deutschland.“

Ich, als Sozialdemokratin, fordere: keine Armee in Europa sollte einem Nationalstaat dienen. Wann, wenn nicht jetzt, ist es an der Zeit, stattdessen eine klare Entscheidung zu einer europäischen Armee zu treffen, die keine Nationalstaaten verteidigt, sondern Werte, die wir innerhalb der europäischen Union auch immer wieder einfordern müssen.

Denn eines ist klar: Die Diplomatie ist nicht gescheitert. Die Diplomatie ist der Weg, immer wieder Frieden zu sichern, auch, wenn sich eine Seite bewusst entscheidet, mit diesem Weg zu brechen.

Denken wir an Brecht und sein Gedicht. Denken wir an unsere Nachgeborenen und ihre Sicht auf unsere jetzigen Entscheidungen und Handlungen!