Es kann anders sein

Graeber/Wengrow: Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit.

Eines der interessantesten Bücher zum Thema Geschichte des Menschen. Und es stellt sehr eindrücklich mit unendlich vielen Belegen und neuen Interpretationen dar, dass es auch anders seine könnte. Es heisst auch im Untertitel „Eine neue Geschichte der Menschheit“, was sich sehr großspurig anhört. Aber wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, stellt man fest, dass es in vielen Bereichen tatsächlich eine vollkommen neue Sicht auf die Geschichte des Menschen wirft.

Es ist nicht leicht zu lesen und es ist oft schwer, den roten Faden nicht zu verlieren. Anhand der Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels kann man gut einen Überblick bekommen. Auch die Sprache (Übersetzung?) ist gewöhnungsbedürftig.

Zu den Autoren

David Wengrow ist Archäologe, zu seinen Forschungsgebieten zählen unter anderem die vergleichende Archäologie sowie Staatenbildung, kognitive und evolutionäre Erklärungsansätze

David Graeber, bekannt durch seine Rolle in der Occupy- und der Extinction Rebellion-Bewegung, Bekanntheit erlangte er unter anderem auch durch sein in den 2010er Jahren veröffentlichten Buch „Schulden“.

Geschichtliche Narrative

„Anfänge“ beginnt mit Rousseau und mit der Frage, warum gerade in dieser Zeit das Thema „Gerechtigkeit“ zum ersten mal aufs Tablett des Nachdenkens kam. Und warum in dieser Zeit über die „Natur“ des Menschen nachgedacht wurde („Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ – 1755)

Grund war die Entdeckung Amerikas und auch die Erforschung von Afrika und den daraus folgende Kontakten mit den dort lebenden Menschen. Und es wurde sofort deutlich, dass es neben den „Staaten“ wie sie in Europa existierten, auch viele andere Formen des menschlichen Zusammenlebens gab.

Rousseau: „Es ist nichts zahmer als der Mensch in seinem ursprünglichen Zustande“. Vor langer Zeit lebte der Menschen als Jäger und Sammler in einem Naturzustand. Im Naturzustand sind alle Menschen gleich, glücklich und zufrieden. Sie werden von Selbsterhaltung bzw. Selbstliebe und Empathie angetrieben. Aber dann entstand irgendwann die Landwirtschaft. Der Mensch lernten, Pflanzen und Tiere zu züchten, und gaben das Jagen und Sammeln auf. Durch Eigentum werden Konflikte ausgelöst, dies sorgt nämlich für Ungleichheit und Misstrauen und ist letztendlich der Grund für Kriege.

Hobbes: „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen“. Dem gegenüber sieht Hobbes in seiner Darstellung den Mensch von Natur aus eigensinnig und gewalttätig, das Leben in der Vorzeit war: „einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“. Abhilfe schaffte erst der Gesellschaftsvertrag. Seitdem ist das Leben zwar deutlich sicherer, der Preis dafür sind aber strikte Hierarchien. Herrschaft und Unterdrückung sind deshalb fundamentaler Teil zivilisierter Gesellschaften.

Beide Erzählungen gehen von einer linearen Entwicklung der Menschheitsgeschichte aus, und Graeber/Wengrow zeigen, dass genau diese Ansicht falsch ist.

Die Ansicht von Hobbes hat sich durchgesetzt: Bevor der Mensch sesshaft wurde und die Landwirtschaft erfand, lebte er in permanenten Krieg und litt unter permanenten Hunger – so die Historiker. Mit der Erfindung der Landwirtschaft setzte eine immer weiter fortschreitende Entwicklung der menschlichen Spezies ein mit der Entstehung von Städten und Staaten. Hierarchien, Herrschaft, Bürokratie und Privatbesitz waren die Voraussetzung der zivilisatorischen Entwicklung, die in der Neuzeit ihren Höhepunkt fand. Ein „Gesellschaftsvertrag“ definiert, dass der Einzelne dem „Staat“ die Regelung seiner Bedürfnisse überträgt. Dies kann nur durch eine starke, „unwiderstehliche“ Instanz geschehen, die alle Individuen dazu zwingt, bestimmte Regeln einzuhalten und somit der herrschenden Unsicherheit ein Ende macht. Der Kapitalismus mit seinen immensen Reichtum, einer parlamentarischen Demokratie und den Menschenrechten ist sozusagen der krönende Abschluss – das Ende der Geschichte.

Fukuyama vertrat genau dies in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“. Er vertrat die These, dass sich nach dem Zusammenbruch der UDSSR und der von ihr abhängigen sozialistischen Staaten bald die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft endgültig und überall durchsetzen würden.

Jeder der sich mit Geschichte beschäftigt, weiss dass das nicht stimmen kann und es ist offensichtlich dass es nicht stimmt.

Immer mehr Historiker werten Daten neu aus uns stellen fest, dass die Menschen vor der Entstehung der Landwirtschaft besser und vielfältiger ernährt waren, sie litten weniger Hunger wie in den Anfängen der Landwirtschaft und wie oft auch noch heute. Es gab weniger kriegerische Auseinandersetzungen – weil die Anzahl der Menschen gering und die Fläche groß war. Und weil es auch keinen Privatbesitz (vor allem an Grund und Boden) gab.

Jede Herrschaftsform und jedes Imperium dachte es sei das Letztendliche (Römer, Absolutismus, Kapitalismus …). Uns als Marxist weiss man, dass Geschichte sich entwickelt und wir träumen zumindest von einer Welt in der die extreme Ungleichheit (von Reichtum und Macht) wieder mehr aufgehoben ist.

Fragen

Dieses lineare Geschichtsmodell warf immer schon viele unbeantwortete Fragen auf:

  • warum gab es wie z.B. die „Stadt“ Göbekli Tepe ca. 10000 Jahre vor Christus mit geschätzten bis zu 20000 Einwohnern, so große Ansiedlungen: passt nicht in das Schema und wurde dementsprechend oft uminterpretiert oder ignoriert?
  • wie konnte der Übergang zu Landwirtschaft und Städten so linear verlaufen?
  • seit es „Geschichte“ bzw. Geschichtsschreibung gibt, wurde immer nur von Staaten berichtet, was geschah in den Gebieten neben diesen Staaten, bzw. wie weit reichte die Macht des Staates?
  • wie setzte sich Herrschaft und Ungleichheit durch – auch so linear?
  • war das Leben vor den Städten (der Erfindung der Landwirtschaft) tatsächlich von Hunger und Krieg geprägt? Viele Gesellschaften die entdeckt wurden sprachen ein anderes Bild?

Die einheitliche Fortschrittslogik

Laut Graeber/Wengrow war die Diskussion über Gleichheit/Ungleichheit und wie sich die Menschheit entwickelt hat bis in 18. Jhdt. kein Thema. Erst mit der Konfrontation der europäischen Staaten mit den Gesellschaften in den entdeckten und eroberten Gebieten wurde sie notwendig: es stellte sich heraus, dass diese Gesellschaften in vielem egalitärer waren und Herrschaft in der „westlichen Form“ oft nicht vorkamen.

Es wurde mit der Konfrontation Europäer/entdeckte Gesellschaften plötzlich notwendig, unsere Form der Herrschaft zu rechtfertigen. So entstand das Bild der „ungebildeten Wilden“ und der kulturellen, entwickelten Europäer.

Dies führte dazu, dass wir in unserem Selbstverständnis keine realistische Wahl zu haben scheinen, über das Gesellschaftsmodell, in dem wir leben wollen nachzudenken. Jeder Gedanke daran wird als Utopismus und Träumerei verhöhnt und diskreditiert – Alternativlosigkeit ist ein häufig benutzter Begriff.

Graeber/Wengrow halten diese Logik für alles andere als natürlich, geschweige denn unvermeidlich. Sie halten es eher für eine „teleologische“ Zwangsjacke, die vielen Kulturen nicht nur überhaupt nicht passt, sondern deren Selbstbild und der archäologischen Evidenz geradewegs widerspricht.

Es könnte anders sein

Dabei ist wichtig: Graeber/Wengrow bieten dabei KEINE alternative Entwicklungslogik an.

Eine solche einheitliche Stufen- oder gar Fortschrittslogik habe es nirgendwo gegeben. Immer schon und überall hätten Menschen mit allen möglichen Subsistenzformen experimentiert und deren Vor- und Nachteile bewusst verglichen und gewichtet. Oft wurden mehrere Formen – Viehzucht, Jagd, Anbau, Handel – gleichzeitig praktiziert, das eine oder andere manchmal jahrhundertelang fallen gelassen und später wieder aufgegriffen.

Dies alles wird belegt mit einer immensen Fülle von neuen archäologischen Ergebnissen und anhand überlieferter Gespräche, die indigene Menschen mit Eroberern und Kolonisatoren führten. Und der daraus folgenden neuen Interpretation von vielen Fakten. So kann nachgewiesen werden, dass sich die Menschen im Winter in großen Gruppen / Städten getroffen haben nur so konnten schon lange vor Städten so etwas wie Stonehenge und Göbekli Tepe entstehen. So entstanden temporäre „Staaten“ auch mit den nötigen Organisationsformen, die sich dann wieder auflösten und die Menschen sich in kleine Gruppen zerstreuten.

Die Menschen schienen sich dabei oft der sozialen Folgen dieser „großen Ansammlungen“ bewusst gewesen zu sein. Sie hatten, z.B. durch konkurrierende Nachbarkulturen oder Handelsbeziehungen.

Die Ursprünge der heute scheinbar selbstverständlichen Ungleichheit und hierarchische Herrschaftsformen sind keineswegs mit der Landwirtschaft entstanden, nach hunderttausenden Jahren mehr oder minder egalitärer Kleingruppen, wie es die Geschichtswissenschaft lehrt. So gab es über viele Jahrtausende eine bunte Mischung sowohl hierarchischer wie egalitärer Gesellschaften und zwar in unterschiedlichen Größen der menschlichen Ansiedlungen. So gab es große Städte die egalitär ohne erkennbare Hierarchie organisiert waren und andererseits genauso kleine Gruppen von Menschen, die autoritär organisiert waren.

Wem es nützt

Graeber / Wengrow haben mit diesem Buch „fast“ die gesamte Historiker-Zunft gegen sich aufgebracht. Der Vorwurf: Sie ignorierten die historischen Fakten, die überall auf der Welt für sich sprächen.

Dies ist absurd.

Sie bringen eine immense (oft schon überfordernde) Fülle von Beispielen aus allen Epochen und aus allen Ecken der Welt. Viele dieser Ausgrabungen und Fakten wurden von den Historikern bisher ignoriert oder eben als nicht repräsentative Ausnahmen angesehen – weil sie nicht in das lineare Entwicklungsmodell passten. Ganz im Gegenteil: nur mit der Sicht von Graeber/Wengrow lassen sich viele Fragen erst beantworten.

Es wird ihnen auch mangelnde Sachkenntnis vorgeworfen. Aber sowohl die schiere Zahl wie auch die oft verblüffende Interpretation oder zumindest Deutungsoption ihrer Beispiele gegen das Standardmodell sind beeindruckend. Manche „Deutungswillkür“ – wenn man es so bezeichnen will, fallen auf mehr 700 Seiten kaum ins Gewicht.

Es ist wie sooft: man findet einige wenige falsche Beispiele oder Interpretationen und verdammt damit alles und muss sich nicht mehr mit dem Inhalt und der eigenen Positionen auseinander setzten. Und alles was nicht ins eigene „Weltbild“ passt, wird als Ausnahme ignoriert oder als nicht relevant gesehen.

Ein Plädoyer für eine andere Welt

Das Motto von attac ist: eine andere Welt ist möglich.

Dieses Buch ist ein Plädoyer für ein anderes mögliches Gesellschaftsmodell und gegen die Akzeptanz der heute scheinbar unvermeidlichen Ungleichheit mit Herrschaft und Privatbesitz.

Graeber/Wengrow zeigen auf:

  • Große Gemeinschaften / Städte / Staaten müssen nicht hierarchisch und zentralistisch verwaltet und regiert werden
  • Die Menschen waren in der Lage, sich temporär, je nach Anforderung unterschiedliche zu organisieren und es spricht nichts dagegen, dass sie das heute nicht könnten.
  • Privateigentum und Ungleichheit war nie die Voraussetzung für die menschliche / kulturelle Entwicklung.
  • Die Durchsetzung von Ungleichheit, Privateigentum und Herrschaft ist ein langer Kampf gewesen, viele Gesellschaften haben sich dagegen ausgesprochen. Auch heute ist unser „westliches Modell“ in vielen Teilen der Welt nicht gültig. Im Gegenteil: es basiert auf der Ausbeutung von weiten Teilen der Welt
  • Das lineare Entwicklungsmodell dient der Legitimierung von Herrschaft.
  • Die Emanzipation vom Einheitsmodell des teleologischen Fortschritts ist möglich, notwendig und überfällig.

Erklärungen und Links

  • Teleologisch: Lehre von der Zweckmäßigkeit und dem Zweckbestimmtsein alles menschlichen wie auch geschichtlichen und natürlichen Handelns (Handlung) und Geschehens. Teleologisch bedeutet auf ein Ziel oder einen Zweck bezogen, einen Zweck unterstellend.
  • Gesellschaftsvertrag: Der Gesellschaftsvertrag geht auf Rousseau zurück und bedeutet letztlich „die völlige Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes“. Es entsteht eine öffentliche Person, die Polis. Diese Gemeinschaft stellt ein untrennbares Ganzes dar. HIER eine genaue Erläuterung
  • Subsistenzform: vor allem in der Ethnologie (Völkerkunde), Anthropologie (Menschenkunde), Soziologie und Archäologie sowie allgemein in der Wirtschaftsgeschichte bezeichnet Subsistenzstrategie, Subsistenztyp oder Subsistenzform übergreifend bestimmte Verhaltensweisen, die auf die Gewährleistung der Versorgung abzielen.
  • Konversationen von Baron de Lahontan mit Kondiaronk, einem Wendat-Häuptling aus Amerika … HIER

Zitate

Kondiaronk: „Ich denke seit sechs Jahren über den Zustand der europäischen Gesellschaft nach und finde das Handeln der Menschen dort noch immer in allen Bereichen unmenschlich. Ich bin der Überzeugung, dass sich dies auch nicht ändern wird, solange ihr an eurer Unterscheidung zwischen »mein« und »dein« festhaltet. Ich versichere, dass das, was ihr Geld nennt, der Teufel der Teufel ist, der Tyrann der Franzosen, der Quell alles Bösen, das Verderben der Seelen und das Schlachthaus der Lebenden. Zu glauben, man könnte im Land des Geldes leben und seine eigene Seele bewahren, ist, als glaubte man, sein Leben am Grunde eines Sees bewahren zu können. Geld ist der Vater von Luxus, Ausschweifung, Schwindel, Lügen, Betrug, Unaufrichtigkeit – des schlechtesten Verhaltens der Welt. Väter verkaufen ihre Kinder, Ehemänner ihre Frauen, Ehefrauen betrügen ihre Männer, Brüder töten einander, Freunde sind falsch, und alles nur wegen des Geldes. Im Lichte all dessen sage mir, ob wir Wendat nicht recht taten, Silber nicht zu berühren oder sogar nicht einmal anzusehen?“

Lahontan: „Versuche einmal in deinem Leben, ernsthaft zuzuhören. Kannst du nicht begreifen, teurer Freund, dass die Völker Europas ohne Gold und Silber – oder ein ähnliches kostbares Symbol – nicht bestehen könnten? Adlige, Priester, Kaufleute und alle möglichen anderen, denen es an der Kraft mangelt, den Boden zu bestellen, würden sonst schlicht Hungers sterben. Unsere Könige wären keine Könige; welche Soldaten hätten wir? Wer würde für Könige oder sonst irgendjemanden arbeiten? Europa würde ins Chaos stürzen, und die schlimmste Verwirrung, die man sich nur vorstellen kann, würde entstehen.“

Kondiaronk: „Glaubst du ernsthaft, du könntest mich überzeugen, indem du die Bedürfnisse von Adligen, Kaufleuten und Priestern anführst? Wenn du die Vorstellung von Mein und Dein ablegtest, ja, dann würden solche Unterscheidungen zwischen den Menschen verschwinden; eine allgemeine Gleichheit würde unter den Deinen herrschen, wie sie jetzt bei den Wendat besteht. Freilich würde in den ersten dreißig Jahren nach dem Verbot der Selbstsucht eine gewisse Verwüstung eintreten, da diejenigen, die nichts anderes als essen, trinken, schlafen und sich vergnügen können, ermatten und sterben würden. Ihre Nachkommen indes wären für unsere Lebensweise geeignet. Immer wieder habe ich die Eigenschaften hervorgehoben, die nach Überzeugung der Wendat die Menschheit definieren sollten – Weisheit, Vernunft, Gleichheit usw. – und demonstriert, dass die Existenz separater materieller Interessen all diesen zuwiderläuft, Ein Mensch, der von einem Interesse getrieben wird, kann kein Vernunftmensch sein.“

Rezensionen – eine Auswahl